Musik gegen Feindbilder – Ein deutsch-russisches Friedensprojekt trotzt dem Zeitgeist

Vier Fragen stellen sich dieser Tage angesichts einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur dringlicher denn je: Was ist nachhaltiger – Vertrauen oder Panzer? Was ist umweltfreundlicher – Vertrauen oder Panzer? Was ist kostengünstiger – Vertrauen oder Panzer? Und schließlich: Was ist zivilisierter – Vertrauen oder Panzer?

Von Leo Ensel

Fragen, die angesichts der eskalierenden Rhetorik zwischen dem Westen und Russland, der milliardenschweren Aufrüstungspakete und eines Klimas des Misstrauens beinahe antiquiert wirken. Dabei liegt die Antwort, so zeigen es die Geschichtsbücher, längst auf dem Tisch.

Vom Schlachtfeld zur Freundschaft

Über Jahrhunderte standen sich Frankreich und Deutschland erbittert gegenüber – von den Scharmützeln des Mittelalters, den deutsch-französischen Kriegen bis zum Ersten und Zweiten Weltkrieg. Jahrhundertelang wurden Feindbilder gepflegt. Frankreich und Deutschland – das waren nicht nur Feinde, sondern in gesteigerter Form sogar Erzfeinde. Kein Krieg, der nicht Leid, Verwüstung und Ressentiments in beiden Ländern hinterlassen hätte.

Und heute? Keine Panzer am Rhein, keine Raketenstellungen zur Abschreckung. Der Hass ist Freundschaft gewichen, die einstigen Feinde sind zu Nachbarn und Partnern geworden. Deutsche flanieren in Paris und genießen Croissants – ohne Eroberungsfeldzug. Franzosen erleben Berlin und seine Kultur – ohne Ressentiments. In Freiburg im Breisgau ist gar eine ehemalige französische Kaserne, einst Symbol militärischer Präsenz, in das Ökoviertel Vauban verwandelt worden – ein weltoffener Modellstadtteil, benannt nach dem Festungsbaumeister von Louis XIV. Schwerter zu Pflugscharen: Hier wird es Realität!

Wie war das möglich? Die Antwort beginnt nicht in den Zentralen der Macht, sondern im Mut Einzelner. Noch während des Weltkrieges entwarf die französische Gymnasiallehrerin Marthe-Marie Dortel-Claudot die Vision einer Aussöhnung mit Deutschland. Sie überzeugte Bischöfe, Wallfahrten der Versöhnung mit Zehntausenden Teilnehmern zu organisieren. Daraus erwuchs die katholische Friedensbewegung „Pax Christi“.

Jahrzehnte später griffen die Staatslenker auf, was diese mutige Frau zuvor gesät hatte: 1963 unterzeichneten Charles de Gaulle und Konrad Adenauer den Élysée-Vertrag – den Grundstein für das Deutsch-Französische Jugendwerk. Millionen junger Menschen begegneten sich seither, tauschten Ferienlager gegen Klassenzimmer, Vorurteile gegen echte Begegnungen.

Das Ergebnis: Vertrauen statt Waffen, Dialog statt Drohgebärden. Eine Sicherheitsarchitektur, die keiner Milliardenbudgets bedarf.

Russland – das fehlende Kapitel?

Warum also, so drängt sich die Frage auf, wird dieses Erfolgsmodell nicht auf die Beziehungen zu Russland übertragen? Warum beantwortet die Europäische Union Spannungen heute wieder militärisch? Warum klammert sich die Politik an alte Kategorien wie „Erzfeind“? (Außenminister Wadephul nannte es nur wenig anders.) – Worte, die an das dunkelste Kapitel deutsch-französischer Feindschaft erinnern?

Während ganze Staaten nun in den Ton der Aufrüstung einstimmen, gibt es im äußersten Südwesten Deutschlands eine leise, aber beharrliche Gegenstimme, die Mut macht.

Jugendliche gegen den Strom – Musik für den Frieden

Die Initiative nennt sich „Musik für den Frieden – Мyзыка ради Mира“. Es sind deutsche Jugendliche, die zusammen mit Jugendlichen aus Russland sich den Gedanken an Mitmenschlichkeit, an den friedlichen Umgang miteinander nicht austreiben lassen wollen. Ihre Vision ist es, sich dem politischen Zeitgeist entgegenzustellen, um einen Keim zu legen für eine friedliche Zukunft in Europa. Vielleicht, so wünschen sie es sich, kann aus diesem Keim dereinst ein deutsch-russisches Jugendwerk entstehen! Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. 

Dafür setzen sie sich ein. Seit 2018 begegnen sich Jugendliche aus Freiburg und Umgebung und Jugendliche aus Twer in Russland. Sie machen gemeinsam Musik, überwinden Sprachbarrieren und politische Feindbilder. Musik, diese universelle Sprache, spricht ihr Herz und Verstand an, stiftet Freundschaft, wo Politik polarisiert und tiefe Gräben zieht. Die Konzerte und Musikfilmproduktionen der Initiative zeigen der Öffentlichkeit, dass Verständigung möglich ist. Während viele Partnerschaften nach dem 24. Februar 2022 ihre Zusammenarbeit einstellten, machte „Musik für den Frieden“ einfach weiter – unabhängig von staatlichen Stellen, getragen von der Überzeugung, dass Menschlichkeit und Musik verbinden.

So wurde aus einer kleinen Idee ein handfestes Projekt mit internationalem Echo: In diesem Herbst plant die Initiative wieder ihr „Internationales Musik-Friedens-Camp“ in der Türkei. Über 60 junge Menschen aus Russland und Deutschland treffen sich, zusammen mit Jugendlichen aus der Türkei und anderen Ländern, für eine gute Woche in Çeşme in einem weitläufigen Resort. Sie leben dort intensiv zusammen, teilen in Gesprächsrunden ihre Hoffnungen, Wünsche und Pläne für eine friedliche Zukunft. Die Jugendlichen proben engagiert viele Stunden am Tag, um dann ein musikalisches und choreografisches Programm auf die Bühne zu bringen. Dabei werden die Songs auf Russisch, Deutsch, Englisch und Türkisch von allen in wechselnden Besetzungen performt. Die meisten Songs sind selbst komponiert, getextet und arrangiert.

Höhepunkt werden große Konzerte in Izmir und Bursa sein – Friedensbotschaften, die direkt von Herz zu Herz transportiert werden. Begleitet von Social-Media-Kanälen und einem eigenen YouTube-Auftritt, trägt sich die Botschaft weit über die Konzertsäle hinaus.

Naivität oder Gegenmacht?

Ist das alles nicht naiv? Eine Handvoll Studenten gegen Rüstungsbudgets in dreistelliger Milliardenhöhe? Ein David gegen Goliath, dessen Schleuder kaum die Panzerketten erreichen könnte?

Nein, meint der Regensburger Propagandaforscher Dr. Jonas Tögel. In seinen Studien zur „Kognitiven Kriegsführung“ kommt er zu einem klaren Schluss: Kein Krieg ist ohne die Zustimmung der Bevölkerung möglich. Manipulierte Wahrnehmungen, gezielte Feindbilder und dauerhafte Propaganda bereiten den Boden für Eskalation. Historisch betrachtet sei die öffentliche Ablehnung von Krieg, der wichtigste Schutzmechanismus vor bewaffneten Konflikten gewesen.

Die Jugendlichen in Çeşme immunisieren sich – bewusst oder unbewusst – gegen diese Manipulationen, kriegstüchtig zu werden. Indem sie einander begegnen, entziehen sie sich Feindbildern und pauschalem Hass. Wer ein Gesicht, einen Freund, eine gemeinsame Erinnerung aus dem anderen Land kennt – das ist die subversive Kraft von Freundschaft und Liebe! –, schießt nicht.

Vom Keim zur Blaupause

Vielleicht werden ihre Konzerte keine Rüstungspläne stoppen. Vielleicht aber sind diese Begegnungen jenes unscheinbare Samenkorn, aus dem einst auch die deutsch-französische Freundschaft erwuchs. Der Weg von den Schlachtfeldern zu Partnerschaften begann damals ebenso leise – mit einer Pädagogin, die an Versöhnung glaubte. Heute sind es Jugendliche mit Instrumenten in der Hand.

Sie werden so selbst zur lebendigen Antwort auf die eingangs gestellten Fragen: Vertrauen ist nachhaltiger. Vertrauen ist kostengünstiger. Vertrauen ist umweltfreundlicher. Und Vertrauen ist, ohne Zweifel, die zivilisiertere Form von Sicherheit.

Straßenszene in Izmir Karşıyaka. Foto: ©Claus Stille

PS:
Das Friedenscamp in der Türkei kostet viel Geld für Flüge, Unterkunft und Verpflegung. Wer möchte, kann das Projekt finanziell unterstützen. Spenden an den
Verein Musik für den Frieden e.V.
Sparkasse Markgräflerland 
IBAN DE24 6835 1865 0108 7211 43 
BIC SOLADES1MGL

Eine Spendenbescheinigung kann vom Verein MUSIK FÜR DEN FRIEDEN e.V. ausgestellt werden. Bitte Mail- oder Postadresse angeben.

Infos: www.musik-fuer-den-frieden.de

Siehe zum Thema «Musik für den Frieden» auch hier und hier und hier und hier und hier.

Herzlichen Dank an Globalbridge und Leo Ensel für die Gestattung der Übernahme des Artikels.

Beitragsbild: ©Claus Stille (Der Uhren-Turm in Izmir)

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Ein deutsch-russisches Konzert für den Frieden – in Izmir, Türkei!

Von: Leo Ensel  AllgemeinPolitikRezensionen

Es gibt sie noch, die letzten ihrer Art: Deutsch-russische Initiativen, die sich in der aktuellen Situation den neuen Feindbildern nicht nur verweigern, sondern genau antizyklisch handeln. Die Jugendinitiative „Musik für den Frieden – Mузыка ради Mира“ wird im Spätherbst im türkischen Izmir ein neues Projekt verwirklichen.

Manche Menschen können es einfach nicht lassen! Erst recht nicht zu Zeiten, in denen ihnen der Wind mit voller Wucht ins Gesicht bläst, weil nahezu überall vehement das genaue Gegenteil gefordert wird…

Make love, not war!

Gemeint ist etwas, das man früher ein wenig old fashioned angestaubt als „Engagement für Frieden und Völkerverständigung“ bezeichnet hätte. Man kann das Ganze aber auch mit einem drastischeren Motto aus ebenfalls lange vergangenen (wilderen) Zeiten auf den Punkt bringen, das heute, in dieser schrecklichen Gegenwart, mit seiner nonchalanten Frechheit wieder äußerst hilfreich sein könnte: „Make love, not war!“

Die Rede ist vom deutsch-russischen Jugendprojekt „Musik für den Frieden – Mузыка ради Mира“, zu dem sich das deutsche „Ensemble MIR“ – „Mir“ (Мир) heißt „Frieden“ – aus Südbaden und das „Jugendtheater PREMIER“ aus dem russischen Twer vor sechs Jahren zusammengeschlossen haben. In beiden Ländern sind sie längst keine Unbekannten mehr. Bereits im Herbst 2019 konzertierten sie gemeinsam und live in Russland (Twer, Moskau) und Deutschland (Rheinfelden, Basel, Badenweiler, Freiburg). Russische und deutsche Medien berichteten begeistert. Auch während der Coronazeit ließ man sich von gemeinsamen Projekten nicht abbringen: Drei Musikvideos – u.a. unter dem Titel „Heal the World“ – wurden online über die Grenzen hinweg produziert und auf einem eigenen YouTube-Kanalveröffentlicht. Und vor zwei Jahren, am 11. September 2022, wurde der Initiative in der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche der „Göttinger Friedenspreis“ verliehen.

Dass „Musik für den Frieden – Mузыка ради Mира“, jetzt erst recht!, gerade zu Kriegszeiten weiter macht, versteht sich von selbst. Und wenn man aufgrund der westlicherseits extrem eingeschränkten Reisemöglichkeiten weder in Russland noch in Deutschland gemeinsame Projekte auf die Beine stellen kann, dann trifft man sich eben in der Türkei. So geschehen vergangenes Jahr, als sich im Herbst zwölf Deutsche und fünfzehn Russen für zehn Tage in Izmir trafen, um dort zusammen eine zarte west-östliche Liebesromanze, den Musikfilm „Romeo und Julia – Frieden ist möglich“, zu realisieren – ein Film, der mit seiner subversiven Kraft der Liebe sowohl in Deutschland als auch in Russland für Aufmerksamkeit sorgte!

Ein deutsch-russisches Friedenskonzert in der Türkei

So auch wieder dieses Jahr – und wieder in Izmir – vom 26. Oktober bis zum 3. November. Diesmal allerdings werden rund 60 musikbegeisterte Teilnehmer erwartet, die auf einem kommunalen Campingplatz direkt am Meer wohnen und in dieser intensive Begegnungen ermöglichenden naturnahen Umgebung als Sänger und Chor ein Konzertprogramm mit eigenen Songs erarbeiten werden. Zu einigen Songs wird es auch Choreographien geben. Eine kleine von SchauspielerInnen gespielte Rahmenhandlung, so ist es geplant, umrahmt das Konzert. Begleitet werden die jungen SängerInnen, TänzerInnen und SchauspielerInnen von einer professionellen Band und einem kleinen Orchester aus Izmir. Mit dabei sind diesmal auch in der Türkei lebende Flüchtlinge aus anderen Ländern.

Die Song-Materialien (Audio-Stimmen und Notentext) werden den Teilnehmern zuvor online bereitgestellt, so dass das Programm zu Hause schon geübt werden kann. Ebenso wird es Tanzvideos zur Vorbereitung geben. Ein Teil des Konzertprogrammes wird aber auch spontan durch eigene Beiträge der Teilnehmer während des Camps entstehen können.

Das Abschlusskonzert wird in einem großen und repräsentativen Konzertsaal in Izmir stattfinden. Unterstützt und getragen wird das Projekt in der Türkei von 13 Rotary Clubs aus Izmir und dem dortigen rotarischen Distrikt. Diese wollen auch dafür sorgen, dass die 1000 Plätze des Konzertsaales ausverkauft sind. Mit dem Einnahmenüberschuss wird das von Rotary International neugegründete Friedenszentrum an der Bahçeşehir University in Istanbul gefördert. Das Konzert wird professionell aufgenommen und gefilmt. Es soll online veröffentlicht werden.

Friedensfähigkeit statt Kriegstüchtigkeit

In einer Zeit, in der die NATO nach Land, Wasser, Luft, Weltraum und dem Internet nun offiziell einen sechsten Kriegsschauplatz, den „Kampf um die Köpfe“ (Cognitive Warfare), eröffnet hat, in der mit modernsten Mitteln psychologischer Beeinflussung die Köpfe der Menschen so infiltriert und manipuliert werden sollen, dass sie die zu Feinden erklärten Menschen anderer Länder willig attackieren und töten – in dieser Zeit setzt „Musik für den Frieden – Mузыка ради Mира“ auf das genaue Gegenteil.

Den zerstörerischen Gedankengängen der Herrschenden auf allen Seiten wird eine friedfertige Vision entgegengesetzt und eingeübt: Die Projektarbeit durch gemeinsames künstlerisches Tun, das alltägliche friedliche Zusammenleben und die direkten Begegnungen von Mensch zu Mensch fördern und verfestigen bei den jugendlichen Teilnehmern unerschütterliche Freundbilder statt medialer Feindbilder, emotionale Friedenssehnsucht statt kognitiver Kriegsführung, Friedensfähigkeit statt Kriegstüchtigkeit – kurz: Liebe statt Hass! 

Dabei spielen die gemeinsamen Mahlzeiten in der Gruppe, die Probezeiten und Freizeiten (Sport, Schwimmen im Meer etc.) eine wichtige Rolle. Gruppengespräche und Einzelgespräche über die eigene Motivation sich für den Frieden zu engagieren, stärken den Zusammenhalt der Gruppe. Dieses friedliche Zusammenleben von Menschen aus verschiedenen Nationen strahlt aus in die Welt und kann im optimalen Falle zu einem Best-Practice Beispiel werden. Wenn diese jungen Menschen später Repräsentanten ihrer Länder sind und Verantwortung tragen, ist mit dieser Erfahrung die Basis für ein friedlicheres Miteinander zwischen den Nationen gelegt.

Geplant ist zudem ein 45-minütiger Dokumentarfilm für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Deutschland, der das gesamte Projekt, von den Planungsanfängen bis zum abschließenden Konzert in Izmir, dokumentiert. Auf diese Weise soll die Botschaft des Friedens-Musikcamps auch eine breitere Öffentlichkeit in Deutschland erreichen.

Man darf also gespannt sein!

PS: Auch Aktivitäten für den Frieden – Sie ahnen es dunkel – kosten Geld. (Die Organisatoren haben ein Gesamtbudget von 60.000 € einkalkuliert.) Wer in dieser spannungsgeladenen Zeit ebenfalls kontrazyklisch handeln und auch etwas bewirken will, ist eingeladen, sich hier zu beteiligen: Musik für den Frieden e.V., Emil-Bitzer-Straße 92, 79379 Müllheim im Markgräflerland. Sparkasse Markgräflerland, IBAN DE24 6835 1865 0108 7211 43, BIC SOLADES1MGL oder per PayPal über die Homepage: www.musik-fuer-den-frieden.de. Der Verein ist gemeinnützig und berechtigt, Spendenbescheinigungen auszustellen.

Foto: ©Claus Stille; Uhrturm in Izmir Konak.

Quelle: Dieser Beitrag erschien zuerst am 26. September 2024 auf Globalbridge.

Ich danke herzlich für die Gestattung der Übernahme des Textes.

Beitragsbild: Snapshot You Tube; Musik für den Frieden.


Update vom 26.11.2024

Dazu ein Bericht von Leo Ensel

Hinweis: Gastbeiträge geben immer die Meinung des jeweiligen Autors wieder, nicht meine. Ich veröffentliche sie aber gerne, um eine vielfältigeres Bild zu geben. Die Leserinnen und Leser dieses Blogs sind auch in der Lage sich selbst ein Bild zu machen.