In der Schule hatten wir einen Englischlehrer, der behauptete in Kalkutta geboren zu sein. Wir Schüler konnten das freilich nicht nachprüfen und frotzelten hinter vorgehaltener Hand: „Wahrscheinlich am Ende das Ganges.“ Dabei war uns wohl damals gar nicht klar, aber letztlich auch egal, weil wir den Fluss selbst ohnehin gar nicht meinten, dass Kalkutta (heute Kolkata) gar nicht am Ganges, sondern an einem Fluss Namens «Hugli» liegt, und dieser sich 300 Kilometer vor Kalkutta bereits vom Ganges trennt.
Der Lehrer kam uns, was seinen Habitus anging, wie ein englischer Gentleman vor. War ein Schüler schlecht vorbereitet, pflegte er meist – sich hinter ihm aufbauend – zu sagen: „Soll ich nachhelfen? Drei Schläge auf den Hinterkopf fördern das Denkvermögen.“
Das Denkvermögen fördert, unser Wissen erweiternd, auch ein ziemlicher Wälzer von 464 Seiten, welchen ich gerade ausgelesen habe:
«Inspiration – Konspiration – Evolution: Gesammelte Essays und Berichte aus dem Überall«.
Allerdings – *Zwinkersmiley* – rate ich davon ab, das Buch zu Schlägen auf den Hinterkopf zu missbrauchen! Lesen genügt vollauf.
Für Autor und Journalist Mathias Bröckers ist dieses bei FiftyFifty zu seinem 70. Geburtstag erschienene Buch ein würdiges Geschenk. Welches er sich sozusagen selber gemacht hat.
Für uns Leserinnen und Leser ist dieses umfangreiche Kompendium ein wirklicher Schatz. Den zu heben sich für uns Leserinnen und Leser in vielerlei Hinsicht lohnt, enthält er doch Bröckers zwanzig seiner besten Essays und Berichte aus den letzten 32 Jahren. Dabei tut es dem Lesevergnügen absolut keinen Abbruch, wenn wir den einen oder anderen Text schon früher einmal gelesen haben. Wir sind ja bekanntlich vergesslich. Der Band steht (so griffbereit in der Nähe) uns auch stets hilfreich zur Seite, wenn wir einmal zu einem bestimmten Thema oder Ereignis nach Informationen suchen, beziehungsweise unsere Erinnerung auffrischen wollen.
Die Mutter schätzte gewiss die Arbeiten ihres Sohnes Mathias. Wenn er sie dann wieder einmal besuchte brachte er ihr immer auch eines seiner gerade erschienen Bücher oder Artikel mit. Der Sohn musste allerdings mit den öfters geäußerten Mahnungen der Mutter leben: «Du kannst doch gut schreiben, aber schreib doch nicht immer so schlimme Sachen«
Als der Sohn im Oktober 2001 wieder ein paar Tage bei der Mutter weilte, schauten sie beide die «Tagesthemen« über die Bombardierung der Höhlen von Tora Bora, wo sich angeblich Osama Bin Laden versteckt haben sollte.
Bröckers schrieb gerade an der «WTC-Conspiracy«-Serie auf telepolis und begleitete die Aussagen in dem TV-Bericht mit seinen Kommentaren: „Dass die Tora-Bora-Bunker von der CIA gebaut wurden, dass Bin Laden einer ihrer Agenten war, dass die 19 «Hijacker« gar nicht richtig fliegen konnten und so weiter … Mutti runzelte die Stirn und schaute mich an“: «Stimmt das, was du da erzählst?« – «Es ist glaube ich, näher an der Wahrheit als das, was sie da im Fernsehen erzählen«, antwortete ich. «Wirklich? … Ach, mir wird das zu kompliziert, Mathias, da halte ich mich lieber an das, was die im Fernsehen sagen. Und der junge Herr Bush scheint doch ganz in Ordnung.«
Bröckers schreibt: „Ich unternahm keine missionarischen Versuche, sie zur 9/11-Skepsis zu bekehren, nahm die Aussage aber pars pro toto für den mentalen Zustand der Republik nach den Anschlägen: So wie meine damals 74-jährige Mutter, die morgens die lokale Tageszeitung las, die Nachrichten im Deutschlandfunk hörte und abends Tagesschau und Talkshows schaute, tickten einfach die allermeisten. Nicht nur älteren Damen, sondern auch die Kollegen bei den Zeitungen und Radiosendern, für die ich arbeitete.“ (S.7/8)
Ist das Jahrhundertverbrechen 9/11 restlos aufgeklärt worden? Natürlich nicht, sagt uns Bröckers. Denn das dürfte die Welt in ihren Festen erschüttern.
Den Band beim Lesen wieder aus der Hand zu legen fällt schwer. So fesseln uns die meisten der Texte. Zumal man gründlich alles erfassen und ja bloß nichts überlesen will. Andererseits verspürt man den „Druck“ der noch folgenden hunderten von Seiten, die noch erfasst und verdaut werden wollen. Aber „wir“ – Sie – schaffen das , liebe Leser, versprochen!
Mathias Bröckers wünscht uns Lesern „viel Freude mit den öffentlichen und heiligen Geheimnissen dieses Buchs.“
Er schreibt: „Was ist das «Geheimnis«, das keines ist, weil «öffentlich« und dennoch «heilig«? Es ist das Staunen vor dem Wunderwerk der Natur, nicht nur als ästhetische Empfindung und Zuneigung, nicht in wild-romantischer Öko-Idylle, sondern im staunenden Wissen über die noch immer kaum ergründete Komplexität der Biosphäre, eine Welt von Kooperationen und Symbiosen all der «Vielen«, die nur zusammen das schaffen, was wir «lebendig« nennen.“ (S.24)
Und schon hebt Buch im Text „Bio-Konspiration – Wie alles anfing …“ gewissermaßen mit dem Urschleim an. Bröckers: „Am Anfang war die Verschwörung. Einzelne Moleküle schlossen sich zu Gruppen zusammen, um die Ressourcen des Planeten besser auszubeuten. Wann genau sich die ersten Kohlenstoffverbindungen dazu entschlossen, wie sie dabei vorgingen und wir lange es dauerte, bis sie erfolgreich waren, kann die Wissenschaft bisher nicht vollständig rekonstruieren – sicher ist nur, dass vor etwa 3,5 Milliarden Jahren das Ergebnis dieser molekularen Verschwörungen erscheint: fortpflanzungsfähige Einzeller … Bakterien … Leben! Und sicher scheint auch, dass es dabei konspirativ zuging.
Conspirare heißt wörtlich «zusammen atmen«, doch zum Zeitpunkt dieser ersten biochemischen Aktivitäten existierte in der Atmosphäre noch gar kein Sauerstoff. Spiritus bedeutet aber nicht nur Hauch und Atem, sondern auch Geist, und ein solcher scheint – konspirativ – schon vor dem Entstehen von Sauerstoff anwesend gewesen zu sein: in Gestalt einer Topagentin namens RNA, die zusammen mit der ihr bald folgenden Kollegin DNA als Mastermind jener Verschwörung gelten muss, den den Planeten Erde nun heimsucht. Wo immer RNA und ihre Partnerin DNA ihren Ursprung haben, ob sie als Eigengewächs oder als außerirdische Eroberer zu bezeichnen sind: Mit dem Auftauchen dieser beiden Supermoleküle beginnt eine neue Geschichte auf der Erde, die Verschwörung des Lebens.“ (S.25)
Mathias Bröckers ruft uns erfreulicherweise in Erinnerung, worauf Papst Franziskus hingewiesen hatte. Nämlich „auf einen entscheidenden Übersetzungsfehler in dem biblischen Gebot «Macht euch die Erde untertan!«“ Es müsse vielmehr heißen, so Franziskus: «Macht euch DER Erde untertan!« (S.15)
„Hat die Natur ein Gedächtnis? Können Tomaten träumen? Ist die Erde intelligent? Und wie konspirativ ging es beim Beginn des Lebens auf der Erde zu? Das sind nur einige der Fragen, denen die Berichte aus dem Überall nachgehen. Mit diesem Best of Bröckers von Gaia über Eleusis bis Goethe, über das Wunder des Bewusstseins und den Weltraum der Seele, Rupert Sheldrakes morphische Felder und Terrence McKennas sprechende Pilze, über Schach, Paranoia, Bobby Fischer, Bob Dylan, LSD und, und, und, schickt der Autor unseren Geist auf eine faszinierende Reise. Bitte einsteigen und abfahren“, heißt des zum Buch. Eine Fahrt, auf der es was zu erleben gibt! „Wenn jemand eine [diese; C.S.] Reise tut so kann er was erzählen,“ […] schreibt Matthias Claudius in einem Gedicht. „Das walte Hugo!“, meine ich.
Hat Goethe seinerzeit, Allerheiligen 1768, wirklich ein UFO gesehen? So manches, was wir uns nicht so recht erklären können, mögen wir als übernatürlich einordnen bzw. schnöde abtun. Mathias Bröckers gab einmal zu bedenken: Vielleicht sind wir aber einfach nur „unternatürlich“?
Hochinteressant Bröckers Text „Gaia – Die Intelligenz der Erde“ (S.32). Er schreibt: „Wir sind die Erde – so sehr, dass wir sie erst verlassen mussten, um ein Gespür dafür zu bekommen: Die Erde lebt.
Bröckers orientiert sich da an dem britischen Mediziner, Klimaforscher und Erfinder James Lovelock. Für Lovelock ist die Erde nämlich ein riesiger Organismus.
In „Eleusis – Über die Geburt der Metaphysik aus dem Geist dess Mutterkorns“ (S.63) schreibt der Autor: „Das Mysterium von Eleusis war eines der bestgehüteten Geheimnisse der Antike. Fast zwei Jahrtausende lang, bis zur Zerstörung des Tempels durch christliche Barbaren im 4. Jahrhundert, zogen Wallfahrer jedees Jahr im September auf der Heiligen Straße von Athen nach Eleusis, fasteten und umtanzten den der Göttin Demeter geweihten Brunnen um Vorwurf des Heiligtums. Die Nacht verbrachten sie in der Mysterienhalle, einem großen fensterlosen Saal. Priester bereiteten einen «heiligen Trank«, den die die Teilnehmer gemeinsam zu sich nahmen – und dann geschah es.“ Sie machten eine unaussprechliche Erfahrung.
„Die Mysterien von Eleusis waren Initiations- und Weiheriten, die die Gottheiten Demeter und Kore betrafen und nach dem Demeterheiligtum in Eleusis (heute Elefsis) bei Athen benannt waren. Sie gehörten zum Staatskult der Athener; es wurden aber auch Teilnehmer aus der gesamten Oikumene in die Mysterien eingeführt.
Die Teilnehmer der Mysterienfeiern mussten die Geschehnisse unter Androhung der Todesstrafe geheim halten und wurden dadurch zu einem exklusiven Zirkel geeint. Sie glaubten, so an der göttlichen Macht teilzuhaben und im Leben nach dem Tode davon zu profitieren. Trotz der Geheimhaltungspflicht konnten aus archäologischen Funden und überlieferten Texten die Abläufe der Feiern weitgehend rekonstruiert werden.
Die Mysterien bestanden aus umfangreichen kultischen Vorbereitungen, auf die ein Umzug von bis zu 3000 Teilnehmern auf der heiligen Straße von Athen nach Eleusis (griech. „Ankunft“) folgte. Während des Zuges wurden Szenen nachgestellt, die die Geschichten der Demeter, der Persephone und des Dionysos darstellen.“ (Quelle: Wikipedia)
Mystisch in der Tat! Fesselnd. Spannend.
Von da aus lässt sich sozusagen auch ein Bogen zu einer anderen Art von Bewusstseinserweiterung schlagen. Ins Werk gesetzt durch LSD. Mathias Bröckers hat mit dem Entdecker des LSD, dem damals 100-jährigen Albert Hofmann ein Gespräch geführt: „Wenn man im Paradies lebt, will man ja nicht so schnell weg.“ (S.269)
Hofmann, der zum Freund von Mathias Bröckers wurde, sagte ihm: Das LSD ist zu mir gekommen. Und das war zunächst eine sehr unangenehme, aber auch Wunder durchwehte Erfahrung für den Chemiker.
Bröckers besuchte, seinerzeit für das Literaturressort der von ihm mitbegründeten taz verantwortlich, einmal in der Woche den begnadeten Kiffer Wolfgang Neuss mit dem Aufnahmegerät. Bröckers hatte ihn als Kolumnisten für die Satireseite gewonnen. („Neuss Deutschland“; S.244)
Nebenbei bemerkt: Die taz ist für Bröckers heute »einem dumpfen und totalitären Woke- und Waffen-Kult anheimgefallen«. Wie die einstige Friedenspartei Die Grünen ja auch ebenso falsch abgebogen ist.
Übrigens hat sich Mathias sehr darum verdient gemacht, die Nutzpflanze Hanf zu einer Wiederentdeckung zu verhelfen. (S.137)
Im prallen Kompendium seiner zumeist genial geschriebenen Texte nimmt uns Bröckers auf Reisen mit durch den Weltraum der Seele, die Wunder des Bewusstseins und der Literatur, er erzählt von Bob Dylan und von der Paranoia des Schachspielers Bobby Fischer. Bereits 1999 nahm er die außergewöhnlichen Erkenntnisse des Wasserforschers Viktor Schausberger beim Verlag Zweitausendeins unter die Lupe, die Computerrevolution in einem Vortrag 2006 (S.125).
Bröckers ist ein wacher, kritischer Geist. Dafür hat aber auch er ein Sack voll Beschimpfungen und Ver- und Missachtung sowie Ausgrenzungen kassiert. Damit hat er aber leben gelernt. Er ist ein Bestsellerautor.
Die Evolution des souveränen Denkens beginnt mit dem Arzt und Alchemisten Paracelsus, Bröckers hat den Text „JFK – «Die Göttin hinter dem Thron« drin, worin es um US-Präsident John F. Kennedy geht und einen über Verschwörungsanalytiker Robert Anton Wilson, den Cannabis-Apostel Jack Herer („Jack Herer – After Sunset“; S.250), den Biologen Rupert Sheldrake („Gedächtnis der Natur“; S.285) , Biophysiker Fritz A. Popp („Biophotonen“; S.349).
Verblüffend zu lesen, wie der Physiker und Chemiker Illya Prigogine an einem tropfenden Wasserhahn das wundersame Wirken der Selbstorganisation erklärt hat.
Immer wieder geht es um eine Definition des Lebens, und um den Geist der Natur in der Menschheitsgeschichte
Nach der faszinierenden Reise, auf welche uns Mathias Bröckers in seinem Band gleichsam als Vehikel mitgenommen hat, steigen wir wieder aus in einen mehr oder weniger schnöden, aber auch immer irrer werdenden Alltag. Wir sind allerdings mit klugen Texten bereichert, die uns ein wenig das Leben besser erklären und zum Nachdenken Anlass geben. Wir sind beeindruckt aber auch ein wenig demütig. Weil wir ein Stück weit mehr wissen, was Menschen können. Die Erde lebt! Aber nie werden wir alles wissen können. Wir wissen im Grunde, dass wir nichts – eine Erkenntnis aus der Antike – wissen.Wohl tatsächlich, weil wir unternatürlich sind.
Einfach klasse, dieses Buch! Leseempfehlung.
Zum Autor

Mathias Bröckers ist Autor und freier Journalist. Seine Werke „Verschwörungen, Verschwörungstheorien und die Geheimnisse des 11.9.“ (2002) sowie das mit Paul Schreyer verfasste „Wir sind die Guten – Ansichten eines Putinverstehers“ (2014) wurden internationale Bestseller. Zuletzt erschien „Mythos 9/11 – Die Bilanz eines Jahrhundertverbrechens“ (2021) im Westend Verlag. Er lebt in Berlin und Zürich und bloggt auf broeckers.com.
Mathias Bröckers studierte Linguistik, Literaturwissenschaft und Politik und gehörte zur Gründergeneration der „tageszeitung“(taz), deren Kulturredaktion er bis 1990 leitete. Er war Kolumnist und Autor der „Zeit“ und für zahlreiche ARD-Rundfunkanstalten. Sein mit Jack Herer verfasstes Werk „Die Wiederentdeckung der Nutzpflanze Hanf“ (1993) führte zu einer Neubewertung von Cannabis als Nutz,- und Arzneipflanze und wurde zu einem internationalen Bestseller. Ebenso wie „Verschwörungen, Verschwörungstheorien und die Geheimnisse des 11.9.“ (2002), das sich kritisch mit den offiziellen Ermittlungen des Anschlags auseinandersetzte. Neben zwei weiteren Sachbüchern über 9/11 schrieb er mit Sven Boettcher unter dem gemeinsamen Pseudonym John S. Cooper die Thriller „Das fünfte Flugzeug“ (2007) und „Zero“ (2008). 2010 erschien „Die Drogenlüge – Warum Drogenverbote der gesundheit schaden und den Terrorismus fördern“ und zum 50. Jahrestag der Ermordung „JFK – Staatsstreich in Amerika (2013). Sein mit Paul Schreyer verfasstes Buch zum Ukraine-Konflikt „Wir sind die Guten – Ansichten eines Putinverstehers oder wie uns die Medien manipulieren“ (2014) war über 30 Wochen in der „Spiegel“-Bestsellerliste notiert. 2016 erschienen „Die ganze Wahrheit über alles“ (mit Sven Boettcher) und „Der Fall Ken Jebsen“, 2017 „König Donald, die unsichtbaren Meister und der Kampf um den Thron“. Ein erweitertes Update des Russlands Ukraine/Russland Buchs „Wir sind immer die Guten“ kam 2019 heraus und zuletzt erschien im März 2019 „Newtons Gespenst und Goethes Polaroid“- ein Essay über den Naturwissenschaftler Goethe. „Don’t Kill The Messenger – Freiheit für Julian Assange“ kam im Juli 2019 heraus.
Mathias Broeckers bloggt hier.
Inspiration, Konspiration, Evolution
Gesammelte Essays und Berichte aus dem Überall
von Mathias Bröckers
ISBN-Daten
Einband – flex.(Paperback)
Softcover
Einband – flex.(Paperback)
Softcover
464 Seiten
Auflage
1
Verlag
Autor
erschienen am
10.06.2024
ISBN-10
3-946778-53-4
ISBN-13
Abmessungen
21,5 x 13,5 cm
Lieferstatus
verfügbar
Preis
30,00 €*
Herausgeber : Fifty-Fifty; 1. Edition (10. Juni 2024)
- Sprache : Deutsch
- Broschiert : 464 Seiten
- ISBN-10 : 3946778534
- ISBN-13 : 978-3946778530
- Abmessungen : 14.5 x 4.1 x 21.8 cm